Vorm Jahresende ging es an den US-Börsen noch mal steil bergauf, auch der DAX hat sich erholt. Gleichwohl sollten Anleger vorsichtig bleiben. Von einer Trendwende sind die Märkte weit entfernt.
Was die Black-Friday-Woche für den Einzelhandel bedeutet, ist die Jahresendrally für die Finanzmärkte. Kurz vor dem Jahreswechsel packt viele Anleger die Kauflust, und sie gehen auf Aktien-Shoppingtour. Die Folge: Gegen Jahresende erleben die Börsen oft eine kurze Hausse, die Kurse ziehen kräftig an. Die sogenannte Santa-Claus-Rally wird von vielen Börsianern sehnlichst herbeigewünscht und könnte sich zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung entwickeln. Auch in diesem Jahr.
Vorboten ließen sich schon in der letzten Novemberwoche beobachten. Zunächst sprach US-Notenbank-Chef Jerome Powell vor dem Think Tank „Brookings“ über seine künftige Geldpolitik und ließ durchblicken, dass die Währungshüter vorerst nur noch moderatere Zinserhöhungen planen, jetzt, da die US-Inflation über die vergangenen Monate etwas nachgegeben hat. Statt mächtigen Zinsschritten von 0,75 Prozentpunkten erleben wir womöglich also bereits ab der nächsten Fed-Sitzung Mitte Dezember nur noch Anhebungen um höchstens 50 Basispunkte. Auch wenn der sogenannte Pivot, also die Wende von der Zinswende, wohl vorerst ausbleibt, dürfte der Zinsgipfel in den USA bald erklommen sein.
Die Reaktion der Märkte auf diese vermeintlich frohe Botschaft ließ nicht lange auf sich warten. Der Dow Jones kletterte kurz darauf auf den höchsten Stand seit sieben Monaten. Und der besonders zinssensible Technologie-Index Nasdaq machte auch gleich mal 4,5 Prozent Boden gut.1 An den US-Börsen herrscht also Feiertagsstimmung. Und auch der DAX hat seit Ende Oktober substanziell zugelegt.
Verfrühte Anlegereuphorie
Der Optimismus und erhöhte Risikohunger unter Anlegern wirft Fragen auf. Schließlich erhielten in den Monaten zuvor vor allem die Stimmen von Pessimisten ein breites Echo, die vor einem düsteren Anlagejahr 2023 warnen. Deren Argumente sind nicht aus der Welt. Denn auch wenn die Inflation langsam sinkt, dürfte sie uns langfristig erhalten bleiben. Gleiches gilt für die hohen Ölpreise, die selbst in Rezessionsszenarien kaum nachgeben, solange der Energiehunger der Industriestaaten weiter wächst.
Das alles geschieht vor dem Hintergrund eines Marktumfelds, in dem die finanziellen Konditionen erst noch restriktiver werden müssen, um die Inflation wirkungsvoll zu bekämpfen. Es scheint fast, als würden sich einige Marktteilnehmer die Lage schönreden.
Wer eine solche Strategie fährt, muss sich der bestehenden Risiken bewusst sein. Rezessionssorgen dürften die Lage an den Aktienmärkten vorerst noch einmal erschweren und die insbesondere noch zu optimistisch erwarteten Unternehmensgewinne unter Druck bringen. Eine vorgezogene Jahresendrally verzögert dabei den notwendigen Anpassungsprozess, der voraussichtlich erst mit dem Höhepunkt der Leitzinsen im kommenden Frühjahr erreicht ist.
Fazit
Die positive Marktentwicklung der vergangenen Wochen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die langfristigen Effekte des Zinsschocks bisher kaum absehbar sind. Solange ein Netz an Risiken die Weltlage beherrscht, gibt es keinen einfachen Plan für ein erfolgreiches Anlagejahr 2023 – und keinen Anlass für eine nachhaltige Börsenhausse. Vorsicht bleibt daher vorerst das Gebot der Stunde.
Quellen:
1 https://www.welt.de/finanzen/article242423169/US-Notenbankchef-Jerome-Powell-loest-Kursrallye-aus.html, https://www.handelsblatt.com/finanzen/maerkte/marktberichte/dow-sundp-500-nasdaq-fed-chef-powell-loest-kursfeuerwerk-an-der-wall-street-aus-us-indizes-schliessen-deutlich-im-plus/28839948.html
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