Carsten Roemheld: Die wirtschaftliche Lage in Deutschland ist und bleibt herausfordernd. Die US-Zölle, der Fachkräftemangel, die tiefgreifende Transformation und inzwischen drei Jahre ohne Wirtschaftswachstum - all das bereitet Politik wie Unternehmen Sorgen. Kaum eine andere Volkswirtschaft wächst weltweit so langsam wie die deutsche.
Nun will die Regierung mit einem Milliardenpaket für Infrastruktur und Verteidigung und mit dem sogenannten Investitionsbooster den nächsten Aufschwung schaffen. Ökonomen warnen allerdings davor, dass zusätzliche Staatsausgaben verpuffen, wenn damit bloß Löcher gestopft werden, es aber an Strukturreformen fehlt.
Das wirft wichtige Fragen auf: Was braucht es, damit Deutschland aus der Krise kommt? Reichen die Investitionsmaßnahmen der Regierung aus? Und was können wir uns von anderen Staaten abschauen, etwa der Schweiz oder den USA?
Darüber spreche ich mit Veronika Grimm. Sie ist Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, besser bekannt als die Wirtschaftsweisen. Das wissenschaftliche Gremium berät die Bundesregierung in der Wirtschaftspolitik. Veronika Grimm ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Technischen Universität Nürnberg.
Mit ihr werfe ich einen Blick auf das jüngste Investitionspaket der Bundesregierung. Wir sprechen über Konsequenzen auf europäischer Ebene und darüber, welche Anreize es braucht, um Deutschland als Wirtschaftsstandort attraktiver zu machen.
Heute ist der 23. September 2025. Mein Name ist Carsten Roemheld, ich bin Kapitalmarktstratege bei Fidelity und Sie hören den Fidelity Kapitalmarktpodcast. Ich freue mich sehr auf Antworten auf diese Fragen und weitere spannende Eindrücke in den kommenden 45 Minuten mit Veronika Grimm. Herzlich willkommen!
Veronika Grimm: Hallo, ich grüße Sie.
Carsten Roemheld: Die Regierung hat im Frühjahr ein neues Investitionspaket beschlossen und zudem wurde im Bereich Verteidigung auch die Schuldenbremse gelockert. Sie haben sich schon früh recht kritisch gegenüber diesem Vorhaben geäußert. Warum ist aus Ihrer Sicht ein Investitionspaket eine schlechte Idee?
Veronika Grimm: Ich fand vor allen Dingen das Timing sehr fragwürdig. Es war fraglos, dass wir im Bereich Verteidigung etwas tun müssen aufgrund der Bedrohungslage und der geopolitischen Veränderungen. Aber man hat hier einen so großen Wurf gestartet, bevor man sich über irgendwelche Reformen geeinigt hat, dass man jetzt schon Spielräume hat, mit denen man Löcher stopfen kann und eigentlich diese Reformen hinauszögern oder vermeiden kann. Und genau das passiert. Das führt dazu, dass die Volkswirtschaft die Wettbewerbsfähigkeit nicht wiedererlangen kann. Denn für die Wettbewerbsfähigkeit braucht es strukturelle Reformen. Und vor allen Dingen bräuchten wir, um dynamisches Wachstum zu bekommen, private Investitionen im Land. Und da sieht man im Moment, dass es nicht so richtig losgeht. Die Stimmung ist auch nicht gut. Ich glaube, dieses Timing war wirklich ein großer Fehler. Man hätte die Verteidigungsfrage klären müssen und sich dann einigen müssen: Was für Reformen machen wir und wie stellen wir uns finanzpolitisch auf?
Carsten Roemheld: Glauben Sie, dass es dieses Investitionsvorhaben oder diese Schuldenbremsenlockerung gar nicht gebraucht hätte, wenn man substanziell Reformen gemacht hätte? Wäre das dann aus Ihrer Sicht der bessere Weg gewesen?
Veronika Grimm: Ja, ich glaube, wir bräuchten eigentlich, wenn man mal wirklich richtig hinguckt, keine zusätzliche Verschuldung für Investitionen. Die Investitionen sind in der Vergangenheit nie daran gescheitert, dass das Geld nicht da war, sondern dass die politische Priorisierung die falsche ist. Zum Beispiel hat man die Sozialsysteme so ausgestaltet, dass das Wachstum der Ausgaben immer höher war in den vergangenen Jahrzehnten als das Wachstum der Wirtschaftsleistung. Das ist natürlich nicht nachhaltig. Und das hat auch nichts mit Zukunftsorientierung zu tun. Im Gegenteil: Wir müssten eigentlich unsere sozialen Sicherungssysteme so ausgestalten, dass sie eben nicht stärker wachsen als die Wirtschaftsleistung, also dass wir sie finanzieren können.
Man hat in der Vergangenheit auch unter der Schuldenbremse eben nicht genug investiert, obwohl teilweise Geld da war. Bei der Verteidigung ist das etwas anderes. Wir hatten die lange Zeit, wo wir dachten, das ist eigentlich gar kein Thema. Wir haben dann die Verteidigungsausgaben runtergefahren, haben das Geld in die sozialen Sicherungssysteme gesteckt. Wir haben also die Friedensdividende genutzt, um bei den sozialen Sicherungssystemen Leistungsversprechen zu machen, die wir eigentlich nicht finanzieren können. Und seit die Friedensdividende eben nicht mehr zu heben ist, seitdem Russland die Ukraine angegriffen hat, ist das ja evident, dass wir in Verteidigung investieren müssen. Und jetzt gibt es da einen großen Rückstand, den wir aufholen müssen. Und deswegen ist diese Verschuldung auch nicht unplausibel, weil man diesen Rückstand natürlich nicht aus dem laufenden Haushalt decken kann.
Und jetzt fangen wir aber auch an, diesen Aufwuchs bei den sozialen Sicherungssystemen über diese Schuldenspielräume zu decken und noch weitere Versprechungen zu machen: Mütterrente, Haltelinie, Subventionen bei Agrardiesel, Erhöhung der Pendlerpauschale. All das können wir uns eigentlich überhaupt nicht herausnehmen bei der aktuellen finanzpolitischen Lage. Trotzdem werden diese Versprechungen gemacht und eben diese zusätzlichen Schuldenspielräume genutzt, um das zu finanzieren. Von den 70 Milliarden zusätzlicher Verschuldung im Jahr 2025 gehen 56 Milliarden eben nicht in Investitionen oder Verteidigung, sondern werden nur zum Stopfen dieser Löcher verwendet. Und das ist meiner Meinung nach unverantwortlich. Es ist aber keinem Politiker vorzuwerfen, weil es völlig klar ist, dass diese Dynamik einsetzt, wenn die Spielräume vorhanden sind. Wer soll denn bitte sich den Hut aufsetzen und Reformen vorantreiben und sparen? Dann hat man den schwarzen Peter. Das würde wahrscheinlich den Politikern auch nicht goutiert werden.
Carsten Roemheld: Aber genau diese Frage möchte ich stellen. Ich meine, es war ja genauso nicht vorgesehen, dass diese Schulden benutzt werden, um Löcher zu stopfen. Sie sagen „Politiker gehen nicht gerne dahin, wo es wehtut", weil sie natürlich auch ihren Wählerschichten nicht wehtun wollen. Aber die Frage ist: Wenn das sozusagen die Voraussetzung ist, wie sollendenn überhaupt jemals Reformen in diesem Land passieren, wenn nicht irgendjemand über seinen Schatten springt oder irgendjemand tatsächlich auch seine traditionelle Wählerschaft ein bisschen in eine andere Richtung lenkt? Wie soll das in Deutschland überhaupt passieren aus Ihrer Sicht?
Veronika Grimm: Dafür waren ja eigentlich die Fiskalregeln gedacht. Die Schuldenbremse hat einen Deckel auf die Verschuldung gemacht. Und der führt dazu, dass die Politiker miteinander ringen müssen, wie sie das verfügbare Geld ausgeben. Dabei wird dann priorisiert, und zwar politisch-demokratisch sozusagen. Diejenigen setzen sich durch, deren Anliegen am Ende durch das Parlament als am wichtigsten begriffen werden.
Wenn wir jetzt keine Grenze mehr haben für die Verschuldung, also wenn das nach oben offen ist, dann ist es natürlich so: Wenn ich als Ministerium oder Minister mit meinem Haus Sparvorschläge mache, dann werden natürlich die anderen Ministerien dieses Geld aufsaugen und zusätzliche Vorhaben finanzieren können. Und genauso ist es natürlich in einer Partei. Wer soll denn derjenige sein, der Vorschläge macht, zu sparen? Und wenn ich an einzelnen Punkten ansetzen würde und Einsparungen mache, dann werden diese Gelder natürlich anderenorts verplant. Das heißt, wenn Spielräume da sind, ist eben zu erwarten, dass sie ausgegeben werden. Und das führt im Moment dazu, dass wir uns zusätzlich verschulden für nicht zukunftsgerichtete Ausgaben, um den Zuschuss der Rentenversicherung zu finanzieren, um Subventionen zu finanzieren, die eigentlich fragwürdig sind. Und das ist eine schlechte Entwicklung. Das Schwierige an der aktuellen politischen Lage ist, dass die Mehrheiten auch nicht da sind, um das wieder zu ändern. Im Moment hätte man einfach politisch auch keine Mehrheiten, um wirksame Fiskalregeln wieder einzusetzen. Und das ist schon eine Situation, die einem Sorgen machen muss.
Carsten Roemheld: Also genau die Disziplin, die eigentlich über die Schuldenbremse installiert werden sollte, die ist jetzt quasi auch damit beseitigt worden. Jetzt sehen es andere Leute nicht ganz so kritisch. Das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft schätzt, dass mit dem Schuldenpaket die Schuldenstandsquote bis 2037 von heute 63 Prozent auf 85 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigt. Das ist immer noch deutlich weniger als beispielsweise im Rest von Europa. In Griechenland sind wir bei über 150 Prozent, in Italien fast bei 140 Prozent. Also liegt Deutschland immer noch im internationalen Vergleich relativ gut da. Ändert das Ihre Einschätzung in irgendeiner Art und Weise, oder ist das ein bisschen zu positiv und zu sehr rosarot gesehen?
Veronika Grimm: Nein, das verklärt natürlich die Situation. Zum einen ist es so, dass wir natürlich nicht wissen, wie schnell die Schulden ansteigen. Wenn wir die Entwicklung in Frankreich zum Beispiel sehen - da waren wir nach der Finanzkrise genau wie Frankreich auf ungefähr 80 Prozent Schuldenstand. Bei Frankreich ist das jetzt nach oben gegangen auf 114 Prozent. Bei uns ist es nach unten gegangen aufgrund der Schuldenbremse.
In Frankreich sehen wir jetzt, dass wir zwar noch nicht auf dem Schuldenstand wie Italien und Griechenland sind, aber politisch sich schon eine Blockade abzeichnet, die einen Sorgen macht, dass nicht konsolidiert werden kann. Und was passiert, wenn so hohe Schuldenstände erst mal erreicht sind? Dann sind natürlich die Zinszahlungen, die zu leisten sind, auch sehr hoch. Jetzt aktuell ist es natürlich so, dass die Zinsen auf Staatsanleihen noch mal gestiegen sind. Einfach aufgrund der Inflation und der Zinserhöhungen der Zentralbanken ist der Schuldendienst gestiegen. Und wenn jetzt die Schulden Stück für Stück überrollt werden - die alten Anleihen müssen abgelöst werden - dann verdoppeln sich teilweise die Zinslasten für diese Anleihen. Und so wird sich die Zinslast in Frankreich, in Italien eben sehr stark nach oben bewegen. In Italien, wenn man das projiziert bei den Zinssätzen, die zu erwarten sind, ist man irgendwann bei 5 Prozent des BIP, bei Frankreich vielleicht etwas weniger. Aber das nimmt natürlich Spielräume im Staatshaushalt, sodass man eben für die anstehenden Aufgaben und Leistungsversprechen keine Spielräume hat.
Und was ist die Lösung? Zusätzliche Verschuldung. Weil eben zum Beispiel in Frankreich eine Konsolidierungsstrategie der Regierungen, die das dann versuchen, die dann immer abgewählt werden, wieder per Misstrauensvotum blockiert wird. Das wird eben von links und rechts blockiert, weil für die extremen Linken und Rechten ist das natürlich eine gute Situation, wenn man die Regierung vorführen kann. In dieser Situation kann man eben geraten, und deswegen ist das schon eine bedenkliche Entwicklung. Es ist gar nicht klar, wie man aus dieser Dynamik herauskommt, und die Zinslast steigt immer stärker an. Dadurch steigt auch der Druck, zusätzliche Schulden zu machen, immer stärker an. Also ich würde das nicht kleinreden. Wenn man etwas dagegen tut, muss man das relativ früh machen, weil der Druck immer größer wird und die Maßnahmen, die notwendig sind, um diese Dynamik zu brechen, die werden immer schmerzhafter. Deswegen besser früher vorausschauend nachhaltig handeln, als erst mal abwarten, bis es zu spät ist - dass zum Beispiel der Kapitalmarkt eben kein Geld mehr gibt.
Carsten Roemheld: Jetzt könnte man ja, wenn man sagt, diese Schulden werden alle komplett in die richtigen Themen investiert, wirklich für Investitionen, wachstumsträchtige Investitionen verwendet, dann könnte ja der Hebel daraus ganz gut sein und könnte wirklich neues Wirtschaftswachstum bringen. Sie sagten ja zu Beginn, dass ein Teil der Schulden tatsächlich für Wahlgeschenke verwendet wird und damit ein Teil der Investitionen quasi verpufft. Das heißt, wir haben nicht den vollen Hebel, den wir eigentlich hätten. Was würde es denn aus Ihrer Sicht an Wachstumsdynamik bringen, wenn wir das Geld jetzt vollständig in neue Investitionsvorhaben investieren könnten?
Veronika Grimm: Die öffentlichen Investitionen bringen nicht so viel. Dazu muss man sich klar machen, was denn überhaupt passieren soll. Es soll investiert werden in Verteidigung und in Infrastruktur. Verteidigung und Infrastruktur sind wichtige Voraussetzungen für Wachstum, weil natürlich die Sicherheit in einem Land und gute Infrastrukturen eine wichtige Voraussetzung dafür sind, dass private Unternehmen hier investieren wollen und daraus dann Wachstum entsteht.
Aber damit private Unternehmen investieren, braucht es noch mehr. Wir haben eine sehr restriktive Regulierung. Wir haben das Vorsorgeprinzip aus der Umweltregulierung auf viele andere Technologiebereiche ausgeweitet, die eigentlich interessant wären als Wachstumsbranchen: Gentechnik, Biotechnologie, Nukleartechnik, viele Sachen im Bereich Pflanzenschutz, Medizintechnik, auch Sachen, wo man im Bereich KI weiter voranschreiten könnte. Viele dieser Entwicklungen werden aber durch Regulierungen ausgebremst, zum Beispiel im Bereich des Datenschutzes, der KI-Act, die Regulierung von Gentechnik und andere Dinge, die verhindern zum Beispiel, dass man an Patientendaten herankommt, um die Medizin mit modernen Technologien voranzutreiben. Das führt natürlich dazu, dass diese Dynamik erstmal nicht einsetzt. Das heißt, wir brauchen mehr als diese Investitionen. Diese öffentlichen Investitionen selbst entfalten natürlich auch eine gewisse Wachstumswirkung. Einfach durch die öffentliche Nachfrage werden jetzt verfügbare Kapazitäten stärker ausgelastet. Wir haben zum Beispiel im Bausektor eine Unterauslastung. Das wird teilweise jetzt aufgehoben. Aber dort, wo nicht unterausgelastet ist aktuell, geht das natürlich in die Preise, wenn man da zu schnell zu viel Nachfrage generiert. Das führt natürlich zu einem gewissen Wachstumseffekt in der kurzen Frist. Aber damit das nachhaltiges Wachstum wird, braucht man sozusagen die Attraktivität für private Investitionen.
Das Produktionspotenzial, das ja eigentlich der Seismograf dafür ist, wie viel Wachstum wir dauerhaft haben, ist im Moment in Deutschland sehr niedrig, ungefähr bei 0,3 Prozent. Also bei Vollauslastung würde unsere Volkswirtschaft nur 0,3 bis 0,4 Prozent Wachstum generieren. Das ist natürlich viel zu wenig, und dieses Produktionspotenzial muss gesteigert werden. Aber das Produktionspotenzial steigert sich durch die öffentlichen Investitionen nicht sehr stark. Die Schätzungen liegen auch im Bereich 0,3 Prozent. Dann sind wir bei 0,6, vielleicht 0,7 Prozent. Eigentlich ist der Wachstumsmotor das sind die privaten Investitionen, und die gilt es zu mobilisieren. Und dafür muss eben viel mehr passieren als öffentliche Investitionen in Verteidigung und in Infrastruktur.
Carsten Roemheld: Also vor allem Standortbedingungen verbessern und Ähnliches. Sie sprachen gerade von Regulierung als einem der wichtigsten Themen. Man sagt ja immer, die EU ist Chef-Regulator der Welt. Sehen Sie denn tatsächlich, dass dieses Problembewusstsein erkannt wird und dass man auf der Ebene versucht, sich zu verbessern? Oder ist das im Rahmen der europäischen Gespräche und Einigungen gar nicht möglich, dass man in dem Bereich für Verbesserungen sorgen kann?
Veronika Grimm: Ja, aktuell ist das noch nicht so wirklich erkannt. Also man spricht erstens immer von Entbürokratisierung und nicht vom Abbau von Regulierungen. Nur bestehende Gesetze bürokratieärmer umsetzen, das reicht nicht. Wir müssen tatsächlich hinterfragen: Brauchen wir all diese Vorschriften, die wir da etabliert haben? Und da kann man sich bei vielen Vorschriften schon sehr ernsthaft die Frage stellen. Entweder, weil sie sich doppeln, sozusagen. Wir haben viel Regulierung, die eigentlich völlig unnütz ist, weil die Probleme schon adressiert werden mit anderen Instrumenten. Das ist zum Beispiel bei der EU-Taxonomie der Fall. Wir haben den Emissionshandel, der schaffen soll, Emissionen zu reduzieren über die Zeit. Und gleichzeitig machen wir dann noch sehr umfängliche Vorschriften, wie das genau technologisch umzusetzen ist. Das ist total unsinnig, weil eigentlich könnte man das den Unternehmen überlassen. Wir wollen ja CO2-Emissionen reduzieren, also diese negative Externalität adressieren. Aber warum soll die Gesellschaft Präferenzen haben, wie das ganz genau zu geschehen hat? Das macht es ja nur teurer. Das könnte man zum Beispiel abräumen.
Dann das Lieferkettengesetz: Gut gemeint, aber natürlich völlig wirkungslos. Wir werden darüber, dass wir Unternehmen zwingen, ihre Lieferketten zu kontrollieren, nicht Kinderarbeit in der Welt unterbinden. Am Ende ziehen sich Unternehmen aus den Ländern zurück, wo sie das nicht kontrollieren können. Und der Nachteil liegt natürlich dann in diesen Volkswirtschaften, die dann weniger Produktion und Handelspartner aus diesen Lieferketten haben. Das ist eigentlich gar nicht der intendierte Effekt, aber man schadet sozusagen demjenigen sogar, den man eigentlich helfen will. Die Bundesregierung hat versprochen, das abzuschaffen. Jetzt macht sie das doch nicht - wirklich kritikwürdig.
Ich habe das Gefühl, dass die Sensibilität noch nicht da ist. Dabei könnte man so viel machen. Wir haben in der Europäischen Union natürlich immer die Tendenz, nach Brüssel zu zeigen und zu sagen: "Das ist alles die Europäische Union, wir können da gar nichts dafür." Aber das stimmt nicht, weil die Deutschen sind besonders gut im "Gold-Plating", also die Dinge besonders gewissenhaft umzusetzen. Viele Dinge, die in anderen EU-Mitgliedsstaaten gehen, zum Beispiel KI-Nutzung auf Endgeräten in Unternehmen, gehen in Deutschland nicht in dem Umfang. Da bräuchte man einfach nur mal in die EU zu gucken, in andere Mitgliedsstaaten: Was geht da? Was geht bei uns nicht? Und das könnte man schon mal in Deutschland selbst regeln und die Regelungen so anpassen, dass es bei uns eben auch geht. Und dann hätte man als großer Mitgliedstaat natürlich auch schon die Möglichkeit, sich in der EU vehementer für den Abbau von Regulierungen einzusetzen. Da gibt es, glaube ich, einen großen Nachholbedarf.
Jetzt ist es natürlich so, dass große Unternehmen das gar nicht so schlecht finden. Das ist teilweise für große Akteure sogar ein Vorteil, wenn die Regelungen so kompliziert sind, dass ihre kleinen Wettbewerber und die Wettbewerber aus dem Ausland das nicht so genau durchblicken. Das ist aber für das Land und für die Entwicklung der Volkswirtschaft und des Wachstums nicht besonders gut, weil wir wollen ja gerade die Konkurrenz durch viele kleine Akteure. Wir wollen ausländische Direktinvestitionen. Und wenn die Investoren gar nicht verstehen, wie die Dinge bei uns geregelt sind, dann ist das auch eine Bremse für den Kapitalmarkt. Deswegen wäre ein Abbau von Regulierung - auch wenn man sozusagen den Kapitalmarkt stärken will und auch viele ausländische Investitionen ansprechen will - ganz, ganz wichtig, dass man dieses Regulierungsdickicht aufräumt. Das wäre natürlich etwas, was nicht mal etwas kostet. Das heißt, da könnte die Bundesregierung viel Wachstumsdynamik produzieren, ohne dass man irgendjemandem Zahlungen kürzen müsste. Das wäre natürlich ein super Handlungsfeld, das aber im Moment noch nicht so gesehen wird.
Carsten Roemheld: Da gibt es ja schon einige Ansatzpunkte. Lassen Sie uns noch mal ganz kurz über Verteidigung sprechen, weil das ein Thema ist, was mich auch interessiert in Bezug auf die Wachstumseffekte und den Multiplikatoreffekt. Wir haben ja eine relativ hohe Auslastung schon bei der Verteidigung in Europa. Die Frage ist, müssen wir dann teilweise diese Teile dieser Ausgaben auslagern an die USA, zum Beispiel dort einkaufen für besondere Bereiche, die wir vielleicht hier noch gar nicht bereitstellen können? Vielleicht moderne digitale Technologien im Bereich Militär und ähnliche Dinge. Das heißt also, der Multiplikator ist wahrscheinlich nicht ganz so hoch wie der bei der Infrastruktur. Welcher Anteil müssen wir denn kurzfristig noch an die USA auslagern? Und was können wir anteilig über die nächsten Jahre in Europa aufbauen an Kapazitäten?
Veronika Grimm: Ich bin jetzt kein Experte für Rüstungstechnologie im Detail. Insofern kann ich nicht genau sagen, was man jetzt auslagern muss, welche Waffensysteme. Aber natürlich ist das so, dass wir in verschiedenen Waffensystemen nicht weit genug sind, um es ganz vermeiden zu können, bei den USA einzukaufen. Das ist natürlich etwas, was dazu führt, dass nicht ganz so stark das Produktionspotenzial erhöht wird - das hatte ich ja schon gesagt. So stark ist die Erhöhung des Produktionspotenzials der Volkswirtschaft nicht, die durch die öffentlichen Investitionen ausgelöst wird.
Jetzt ist es aber auch so, dass wir uns das leichter oder schwerer machen können. Ich habe in diesen Tagen gelesen, dass - ich glaube der SPD-Generalsekretär - eine Übergewinnsteuer für Rüstungsunternehmen vorgeschlagen hat. Super Idee in einer Zeit, wo wir Investitionen in die Rüstungsindustrie anreizen wollen. Also das muss man erst mal bringen. Da fehlt einfach teilweise ein Grundverständnis dafür, wie Wirtschaft funktioniert. So werden wir natürlich garantiert nicht unsere Verteidigungsindustrie stärken. Wenn wir jetzt in dem Bereich, wo wir dann vielleicht erahnen, dass da hohe Gewinne gemacht werden können, sagen: "Dann müssen wir die gleich wieder abräumen". Dann ist die Verlässlichkeit für die Investoren natürlich nicht gegeben. Und dann wird man zwangsläufig in die Lage geraten, stärker im Ausland einkaufen zu müssen. Das ist natürlich total kontraproduktiv.
Dann fragt sich natürlich: In welche Art von Technologie investiere ich denn und wofür gebe ich diese Mittel aus? Es gibt natürlich einen großen Bereich in der Verteidigungsindustrie, der auch sehr technologieintensiv ist: Hightech an der Technologiegrenze im Bereich KI, im Bereich Drohnen, im Bereich Space. Das sind natürlich Aktivitäten, die sollte man vorantreiben. Und da könnte man durchaus erwarten, dass durch diese Investitionen im Verteidigungsbereich und auch durch die Forschung und Entwicklung Spillover-Effekte stattfinden, auch in die zivile Nutzung. Das wäre natürlich super, weil dann gäbe es Effekte, die das Wachstum noch stärker anreizen. Das sollte man unbedingt tun.
Was man auch tun sollte - was ja auch viel in der Diskussion ist - ist: Man sollte natürlich europäisch kooperieren im Bereich der Verteidigung. Wir geben in der Europäischen Union zwar relativ viel Geld aus für Verteidigung, wenn man mit anderen großen Wirtschaftsräumen vergleicht. Aber wir kriegen dafür nur halb so viel Verteidigungsfähigkeit, wie wir eigentlich bekommen könnten, wenn wir das effizient tun würden. Wenn wir also nicht ganz viele unterschiedliche Waffensysteme hätten, wenn wir kooperieren würden bei Forschung und Entwicklung. Und das sollte man natürlich tun. Da ist aber auch eine große Herausforderung, weil diese forschungsintensiven Aktivitäten - wenn man europäisch kooperiert und die Rüstungsbeschaffung gemeinsam organisiert - die möchte natürlich jeder gerne haben. Da wird man zwischen Deutschland und Frankreich sich überlegen müssen: Wer kriegt denn hier den Zuschlag für welche Aktivität? Und gegeben, dass man ja nicht doppeln sollte, muss man sich da auch einig werden. Wer im Bereich der Forschung die Aktivitäten zugeschlagen bekommt, wer im Bereich der Produktion? Welche Unternehmen werden da in den Fokus genommen? Es sollten nicht einzelne große Konzerne sein - dann gibt es natürlich Monopole. Aber so zwei, drei Konzerne sollten schon konkurrieren bei den wichtigen Verteidigungsindustrien zum Beispiel. In den USA sieht man ja auch, dass auch im Bereich Space Bezos und Musk sozusagen darum konkurrieren, diese Dienstleistungen anzubieten. Das ist natürlich klug, weil die sich gegenseitig dann auch beflügeln und übertrumpfen wollen und dadurch viel schneller die Entwicklung vonstattengeht.
Carsten Roemheld: Bevor wir gleich auf andere Länder schauen, würde ich gerne noch einmal über die Lage in Deutschland sprechen. Wir stehen vor einem immensen demografischen Wandel und Fachkräftemangel. Gibt es eigentlich Ansätze oder Lösungen, wie wir diesen Problemen langfristig begegnen können?
Veronika Grimm: Man muss das natürlich im Blick halten. Man muss das nicht bekämpfen, sondern man muss überlegen, wie man die verschiedenen Herausforderungen adressiert. Ich meine, das ist ja eine große Errungenschaft, dass die Menschen heute sehr alt werden. Viele werden auch sehr gesund älter. Einerseits stellen sich natürlich Finanzierungsprobleme in den sozialen Sicherungssystemen durch den demografischen Wandel, weil natürlich dadurch, dass es immer mehr alte Menschen gibt, die auch immer länger leben, die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung und auch der Pflegeversicherung in Frage steht. In der gesetzlichen Rentenversicherung läuft das ja nach dem Umlageverfahren. Die aktuellen Erwerbstätigen zahlen sozusagen die Renten der Rentnerinnen und Rentner. Früher waren das mal sechs Erwerbstätige pro Rentner, heute sind es noch 2,5 und bald sind es nur noch zwei. Das illustriert natürlich das Problem.
Das bedeutet natürlich, dass wir schon die Ausgaben dieser sozialen Sicherungssysteme im Blick behalten müssen. Beim Rentensystem werden viele Scheinlösungen diskutiert, zum Beispiel die Aktivrente. Da macht man Steuervergünstigungen für arbeitende Rentner. Das führt aber dazu, dass wir sehr viele Mitnahmeeffekte haben, denn es gibt schon arbeitende Rentner, die dann weniger Steuern zahlen. Das sind dann geringere Einnahmen für den Staat. Da müssen erstmal so viele Leute mehr arbeiten im Rentenalter, dass sich das dann tatsächlich finanziell als ein Gewinn für den Staat darstellt. Das sind Lösungen, die vielleicht ein paar mehr Leute in den Arbeitsmarkt bringen, aber die die Ausgabenlast nicht dämpfen und das Problem daher nicht lösen. Was man machen muss, ist das Rentenalter an die längere Lebenserwartung anpassen. Also wenn wir älter werden, müssen wir auch etwas länger arbeiten. Zwar nicht drastisch, aber eben so, dass das Verhältnis von Erwerbstätigen und Rentnern - das Verhältnis der Zeit, die man auf das Erwerbsleben und auf den Ruhestand aufteilt - ungefähr zwei Drittel zu einem Drittel ist, also zwei Drittel Erwerbsleben, ein Drittel Ruhestand im Schnitt.
Dann müssen wir schauen, dass wir den Anstieg der Bestandsrenten dämpfen - das Preisniveau, den Anstieg des Preisniveaus zum Beispiel ausgleichen, aber nicht die Renten ansteigen lassen mit den Löhnen, die sich ja auch aufgrund des Fachkräftemangels dynamischer entwickeln dürften. Dann müssen wir den Nachhaltigkeitsfaktor wieder einsetzen und wahrscheinlich schon die Rentengeschenke, die gemacht wurden - also die Mütterrente und die Rente ab 63, also nach 45 Beitragsjahren - das müssen wir wahrscheinlich schon wieder zurücknehmen und durch Härtefallregelungen ersetzen, die dann tatsächlich diejenigen betreffen, die wirklich nicht mehr können.
Aktuell wird die Rente ab 63 von vielen in Anspruch genommen, die eigentlich noch leistungsfähig wären, und das können wir uns eigentlich so nicht leisten. Bei der Pflegeversicherung muss man wahrscheinlich bei der Pflegestufe eins auch Dinge zurücknehmen und einfach von den Menschen erwarten, die das leisten können, dass sie einen größeren Eigenanteil leisten - also die Menschen absichern, die das nicht leisten können, aber bei denen, die das leisten können, eben auch Eigenanteile in der Pflege einfordern.
So kann man natürlich durch die Systeme gehen und sich überlegen, wie kann man Anpassungen vornehmen, damit letztlich einerseits der Beitrag des Bundes - da gibt es ja einen Zuschuss zur gesetzlichen Rentenversicherung, der immer weiter ansteigt, das ist zwischen einem Drittel und einem Viertel des Bundeshaushalts, das ist ein richtig großer Teil, der im Bundeshaushalt auch Spielräume raubt - der darf nicht so stark steigen. Und natürlich die Beitragssätze. Die Beitragssätze sind in den vergangenen Jahren immer weiter gestiegen. Das müssen wir auch einbremsen. Das ist natürlich auch ein Aspekt für die Wettbewerbsfähigkeit. Wenn die Lohnnebenkosten immer weiter ansteigen, dann sinkt die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft. Also das muss man adressieren. Die Reformvorschläge liegen wirklich seit Jahren auf dem Tisch. Aber die Politik macht es nicht. Da wäre dringend Handeln angesagt.
Carsten Roemheld: Ja, ganz klar. Kommen wir vielleicht mal von Deutschland einen Schritt zurück zum Thema Europa. Es wird befürchtet in vielen Regionen, dass das stabile Deutschland, was jetzt seine Kriterien aufweicht, dass damit die Lockerung der Schuldenbremse die europäischen Regeln insgesamt aufweicht und damit Tür und Tor öffnet für andere, die entsprechend weiter vorgehen. Dass das weitere disziplinierte Vorgehen im Finanzbereich in Europa gefährdet und vielleicht sogar - es wird von vielen Seiten immer mal wieder von einer Staatsschuldenkrise gesprochen, weil es in anderen Ländern ja noch deutlich drastischer zugeht als bei uns. Ist das eine aus Ihrer Sicht mögliche Gefahr, dass wir so was in Zukunft noch mal sehen werden?
Veronika Grimm: Ja, das ist absolut real diese Gefahr. Das ist jetzt nicht so, dass das morgen kommen wird. Aber wir können ja mal gucken, was in Deutschland passiert ist. Wir haben jetzt eine Finanzplanung, die eigentlich nicht erwarten lässt, dass in absehbarer Zeit der Schuldenstand wieder sinkt. Das erfordern aber die europäischen Fiskalregeln. Jetzt hat man nach Brüssel eine Planung eingereicht, die das eben gewährleistet. Die hat schon wieder bewiesen, dass die Parametrisierung und das, was da so angenommen wird, nicht übereinstimmt mit den Prognosen wesentlicher Wirtschaftsforschungsinstitute oder auch des Sachverständigenrats. Aber es ist eben nicht total unplausibel. Und was macht die Kommission? Sie genehmigt eben diese Haushaltsplanung. Das ist auch gegeben des Spielraums, den die Kommission eben bei diesen Absprachen mit den einzelnen Mitgliedsländern hat - das ist jetzt auch nicht kritikwürdig an sich. Aber es zeigt eben eine Leerstelle, nämlich dass wir nicht erwarten dürfen, dass die europäischen Fiskalregeln in ihrer neuen Ausgestaltung tatsächlich verhindern, dass die Staatsschulden in den Mitgliedstaaten immer weiter ansteigen. Die Kommission hat da letztlich nicht den Zugriff darauf. Dann wird in den Diskussionen gesagt: "Na ja, das muss eben irgendeine nationale Organisation machen." Aber wer soll es denn tun, der Bundesregierung auf die Finger zu gucken?
Das führt natürlich dazu, dass wir wahrscheinlich keine wirkliche Kontrolle der Entwicklung der Staatsschulden haben. Man sieht jetzt ja schon in Frankreich, dass es ab einem bestimmten Punkt eben kaum noch vermeidbar ist - es ist schwierig einzufangen. Wir müssen jetzt gespannt sein, wie sich die Lage in Frankreich entwickelt.
Aber es kann natürlich gut sein, dass von den vielen Mitgliedstaaten, die eben sehr hoch verschuldet sind, doch mal einer in die Bredouille gerät. Wenn es ein großer europäischer Mitgliedsstaat ist, dann wird die Europäische Zentralbank sehr stark unter Druck geraten, da zu helfen. Das muss nicht offensichtliche Staatsfinanzierung sein, aber es gibt natürlich ein unglaubliches Verletzungspotenzial für die extremen Parteien, gerade in den Ländern, die fiskalisch noch gut dastehen. Das ist schon eine große Gefahr, dass da auf die eine oder andere Art diese fiskalische Instabilität dazu führt, dass auch politisch die Dinge sich verschärfen.
Also ich glaube, man muss da sehr frühzeitig sich überlegen: Wie schaffen wir Institutionen, die verhindern, dass die Staatsfinanzen eigentlich nicht mehr eingefangen werden können? Wie schnell sich diese Entwicklungen vollziehen, ist nicht so klar. Sicher ist, dass es eine Angriffsfläche bietet auf die EU. Russland und China werden diese Zahlen auch analysieren. Es ist natürlich so: Wenn wir auf Sicherheit bedacht sind und gerade diese Verschuldung aufnehmen, um Sicherheit in Europa zu etablieren, dann sollten wir eben diese offene Flanke uns nicht leisten. Wenn es auch auf der Kippe steht, kann man natürlich seitens feindlicher Staaten auch sozusagen das Fass zum Überlaufen bringen durch Maßnahmen, die Krisen in der EU auslösen. Also ich halte das schon für eine sehr schwierige Situation, die man wirklich jetzt adressieren sollte und wo man nicht sagen kann: "Es geht die nächsten vier Jahre schon noch gut."
Carsten Roemheld: Ist das aus Ihrer Sicht das größte Problem, dass das, was eigentlich für die Staaten notwendig wäre, und das, was die Bürger vielleicht wollen und auch politisch entscheiden, dass das so weit auseinanderfällt und dass man hier quasi keine Übereinstimmung dieser beiden Dinge bekommt? Und dann früher oder später vielleicht die Unzufriedenheit so groß wird, wenn die Maßnahmen, die notwendig wären, angebracht sind, dass dann die Leute auf die Straße gehen und ähnlich wie in Frankreich die Gelbwesten oder ähnliche Dinge, dass dann sowas mehr und mehr passiert? Also dass man hier ein großes Problem hat, politisch durchzusetzen, was eigentlich aufgrund der wirtschaftlichen und finanziellen Situation notwendig wäre?
Veronika Grimm: Ja, ich glaube, das eigentliche Problem ist, dass wir uns die Situation seit langer Zeit schönreden. Die wirtschaftlichen Fakten liegen eigentlich auf dem Tisch. Es gibt den Konsolidierungsbedarf. Wir sehen seit Jahren, dass die Kosten der sozialen Sicherungssysteme zu stark ansteigen im Vergleich mit unserem Wirtschaftswachstum. Wir sehen den Rückgang der Wettbewerbsfähigkeit, wir sehen die zunehmende Konkurrenz durch China zum Beispiel auch bei unseren Industrien, die traditionell unser Exportmotor waren. Und wir sehen vor allen Dingen diesen Strukturwandel, der sich jetzt auch in Deutschland vollzieht. Wir sehen ja, dass die Wertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe - traditionell unser Zugpferd - die Wertschöpfung nimmt ab und es werden Arbeitsplätze abgebaut. Die Wertschöpfung verschiebt sich in Richtung des Dienstleistungssektors. Das ist auch in allen entwickelten Volkswirtschaften der Fall, dass eben Stück für Stück diese Verschiebung, dieser Strukturwandel stattfindet vom sekundären Sektor in den tertiären Sektor. Das ist überhaupt nichts Überraschendes.
Wenn wir das aber mal im Detail angucken in Deutschland, dann sehen wir eben, dass der Abbau von Arbeitsplätzen in der Industrie stattfindet, der Aufbau von Arbeitsplätzen im Dienstleistungssektor, aber im Gesundheitssektor natürlich durch die demografische Entwicklung und im öffentlichen Dienst, weil wir ja so viel Verwaltungsaufwand generieren, dass wir da auch ganz viel Kapazitäten im öffentlichen Dienst brauchen.
Wo wir eine große Leerstelle haben, ist in den technologieintensiven Dienstleistungen und in hochinnovativen Unternehmen auch im verarbeitenden Gewerbe - eben dort, wo Medizintechnik, Biotechnologie, Gentechnik, Nukleartechnik, diese ganzen Sachen, wo wir eigentlich punkten könnten - das bremsen wir aus durch Regulierung. Deswegen haben wir eben diesen Strukturwandel vom verarbeitenden Gewerbe, wo wir gut dabei waren in der Vergangenheit, aber wo China uns in verschiedenen Bereichen jetzt den Rang ablaufen wird, weil die auch technologisch jetzt auf der Höhe sind und die Produktionsbedingungen günstiger sind dort als bei uns. Und diese Verschiebung an die Technologiespitze in den Zukunftstechnologien, die fehlt uns, weil wir uns da regulatorisch blockieren. Das wird aufgesogen durch die wenig produktiven Sektoren Gesundheit, öffentlicher Dienst. Ganz netter Fun Fact - so witzig ist es gar nicht. Aber im Dienstleistungssektor, also gerade im öffentlichen Sektor und im Gesundheitssektor, wo man den Outcome nicht spezifisch messen kann, da misst man in den Analysen die Produktivität durch die Lohnsumme - das heißt die Behelfslösung. Das heißt aber, dass, wenn die Lohnsumme steigt, die gemessene Produktivität steigt. Ist natürlich Unsinn. Und dann scheint es erstmal so, als ob man gut unterwegs ist. Aber in echt hat man nur die Löhne als Antwort auf die hohe Inflation noch mal saftig erhöht. Und da führt man sich dann auch selbst in die Irre.
Also man muss schon so ein bisschen aufpassen, die Warnzeichen sind schon alle da. Und wenn man das den Wählern klarer kommunizieren würde und nicht diese Auswirkungen mit Schulden zudecken würde, sondern sagen würde "wir müssen jetzt was tun", dann würde man vielleicht mehr Akzeptanz für eine Politik haben, die sich diesen Fragen tatsächlich widmet. Das ist schon auch eine Frage der öffentlichen Kommunikation. Natürlich kann man den Wählern nicht verkaufen, dass man Probleme löst, die die Wähler überhaupt nicht erkennen und sehen.
Carsten Roemheld: Ich würde auf den Punkt mit China gerne zurückkommen. In der Konkurrenz, was Maschinen, Fahrzeuge, Ingenieurwesen betrifft, haben wir da eigentlich überhaupt eine Chance? Also zwei Sachen. Das eine ist: Ich glaube, die Qualität ist natürlich viel besser geworden. Anscheinend wird relativ viel subventioniert dort, so dass es sehr schwerfällt, dagegen anzugehen. Und neulich haben auch unsere Kollegen aus Asien mir gesagt, die Ingenieure in China oder die R&D-Departments laufen dort 24 Stunden rund um die Uhr. Also da werden die von 8 bis 16 Uhr abgelöst von denen der nächsten Schicht usw. Während hier unsere Ingenieure um neun ins Büro kommen und vielleicht um 18 Uhr wieder gehen. Also die Frage ist, wie kann man eigentlich so einen Vorsprung überhaupt aufholen und welche Dinge wären notwendig, dass man hier mithalten kann auf Dauer?
Veronika Grimm: Ja, ich glaube, wir sollten uns nicht dagegen wehren, dass China uns in bestimmten Bereichen den Rang abläuft. Wir sollten eben versuchen, unsere Regulatorik so auszugestalten, dass wir neue Technologiebereiche erschließen, wo wir wirklich Spitze sind. Wir haben da viele Bereiche. Wir haben auch viele junge, gut ausgebildete Leute. Wir müssten eigentlich unser Bildungssystem stärken. Es gibt sicherlich auch Unternehmen, die gerne zu uns ins Land kommen, um hier etwas aufzubauen, wenn es alles bürokratisch handhabbar ist. Da müssten wir tatsächlich besser werden bei der Regulatorik.
Wir könnten natürlich diskutieren, ob wir im Bereich Arbeitsmarkt auch die Arbeitsmarktregulierung flexibilisieren. Die haben dann ein sehr hohes Arbeitslosengeld, aber eben eine sehr geringe Jobgarantie und in der Bevölkerung dann aber auch das Vertrauen, dass man dann aufgefangen wird und relativ schnell wieder Arbeit findet. Das sind unterschiedliche Systeme. Ich weiß nicht, ob wir uns in die Richtung bewegen könnten, aber das wäre natürlich auch hilfreich.
Bestandswahrung zu betreiben ist eben sehr gefährlich, weil es eben sein kann, dass wir trotz aller Subventionen eben den komparativen Vorteil Chinas und der doch sehr günstig produzierenden Schwellenländer bei bestehenden Technologien nicht komplett kompensieren können. Und dann haben wir unser Pulver verschossen. Also ich würde eher in den High-Tech-Bereich gehen. Und da Sie ja die USA angeführt haben, die jetzt teilweise wieder re-industrialisieren: Da ist es so, dass natürlich dieser Wandel weg vom verarbeitenden Gewerbe hin zu den Dienstleistungen auch stattgefunden hat. Aber wir sehen eben, dass im Hightech-Bereich eben keine Leerstelle ist. Im Gegenteil, da passiert unglaublich viel im Bereich Digitalisierung, künstliche Intelligenz und alle möglichen Technologien, die darauf aufsetzen, wie Life Technologies, Gesundheit und so weiter und so fort. Da werden dann die Fortschritte gemacht und das bräuchten wir eben auch, dass wir da in den zukunftsweisenden Technologien mit vorne dabei sind.
Deswegen ist in den USA eben auch gar nicht zu beobachten, dass man aufgrund dieses Strukturwandels Wachstumseinbußen hinnehmen musste. Im Gegenteil, das hat das Wachstum noch mal angekurbelt - die Entwicklung im Bereich künstliche Intelligenz. Aber man möchte jetzt vielleicht aus Sicherheitsgründen Industriearbeitsplätze wiederhaben oder weil die Bevölkerung in die Richtung sich das wünscht. Aber es ist auf jeden Fall so, dass der Strukturwandel dort viel produktiver vonstattengegangen ist als bei uns.
Carsten Roemheld: Noch eine Frage zum Thema Technologie, weil ich da immer sehr spannend finde, dass wir in Deutschland eigentlich auch von den wissenschaftlichen, von den akademischen Grundlagen her sehr gute, eigentlich die besten Voraussetzungen haben und wirklich Spitzenkräfte entwickeln, sehr innovative Leute haben. Die dann aber möglicherweise im Verlauf, wenn es darum geht, eine Idee vielleicht vorzustellen und dann weiterzuentwickeln, dann oft den Schneid abgekauft bekommen, dass sie Ideen dann abwandern, eben vielleicht durch US-Unternehmen oder sonstige Dinge. Also dass sozusagen die Brücke fehlt von der wissenschaftlich fundierten Ausbildung hin zur Entwicklung eines Produktes, einer Dienstleistung, weil wir einfach nicht diese Risikokapital-Kultur hier haben, um diese Dinge dauerhaft voranzutreiben. Wie können wir denn das verhindern oder vermeiden, dass uns diese guten Voraussetzungen abhandenkommen im Verlauf des Prozesses?
Veronika Grimm: Ja, da haben wir ja schon ein paar Themen gestreift. Also wie gesagt, die Erfinder dürften wir schon haben. Es ist eben dann so, dass viele, wenn sie skalieren wollen, in andere Länder gehen, nicht nur in die USA, sondern auch in andere europäische Länder. Das liegt auch daran, dass wir eben eine sehr moderate Kapitalmarktkultur haben. Man könnte die Kapitalmärkte stärker integrieren in der Europäischen Union. Das wäre sicherlich eine wichtige Richtung, dass man mehr harmonisiert EU-weit und dadurch einen Hebel entwickelt.
Regulierung hatten wir schon angesprochen. Es ist eben so, dass wir eine sehr komplexe Regulierung haben auf allen föderalen Ebenen, von der Kommune über das Land bis zum Mitgliedsstaat und auf EU-Ebene. Das ist eben sehr wenig durchschaubar für Investoren. Und das führt dann eben auch dazu, dass die Investoren weniger klarsehen: Was sind die attraktiven Geschäftsmodelle? Auch das ist dann transparenter, wenn man das andernorts vorantreibt. Arbeitsrecht hatten wir angesprochen. Es ist eben beim Skalieren schon so, dass man ja immer noch in einem Bereich ist, wo das Risiko hoch ist. Und wenn ich viele Leute anstelle und die dann nicht wieder entlassen kann, dann ist das natürlich für den Investor ein größeres Risiko, als wenn das Arbeitsrecht relativ flexibel ist. Und so kommt eins zum anderen, und da müssen wir natürlich an vielen Hebeln drehen. Und da sollte die Bundesregierung in die Richtung gehen, tut es aber im Moment eigentlich in keiner dieser Dimensionen.
Carsten Roemheld: Sie hatten jetzt auch von unseren europäischen Nachbarn gesprochen. Ich hatte es in der Einleitung angemerkt und möchte damit auch die Schlussfrage stellen. Ein Blick auf die Schweiz lohnt sich in der Tat, denn sowohl 2023 als auch 2024 hat die Schweiz im Innovationsindex den ersten Platz belegt. Deutschland ist vom achten auf den neunten herabgerutscht, aber immerhin noch eine Top-Ten-Position. Was können wir denn gerade von der Schweiz vielleicht lernen? Was macht die Schweiz denn so viel besser als wir?
Veronika Grimm: Erstmal ist die Schweiz natürlich nicht in der Europäischen Union und muss nicht alles mitmachen, was von dort kommt. Das heißt, wir haben natürlich eine ganze Menge Regulierungen aufgrund der Europäischen Union, die die Schweiz nicht unbedingt übernimmt. Die Europäische Union versucht jetzt teilweise, der Schweiz diese Regulierung aufzuzwingen, was schon auch fragwürdig ist. Wir sollten eher andersherum denken und uns abgucken: Was funktioniert denn in der Schweiz gut, weil eben bestimmte Regulierungen nicht so ausgefallen sind, wie wir sie haben?
Dann haben wir natürlich das interessante Phänomen, dass, obwohl die Schuldenquote sehr niedrig ist, die Dinge trotzdem funktionieren. Und vor allen Dingen auch umfangreiche Investitionen getätigt werden im Bereich der Infrastruktur, in einem Land, das natürlich viel schwierigere Voraussetzungen hat als wir. Da muss man dann gleich riesige Tunnel graben, wenn man Infrastrukturen ausbauen will. Also da sollten wir vielleicht mal genauer hingucken. Man hat da eine Infrastrukturgesellschaft, eine öffentliche. In Österreich hat man eine eher privat organisierte Infrastruktur-Gesellschaft, die sich auch selber verschulden kann. Es gibt Vor- und Nachteile. Und man hat natürlich dadurch, dass man eine viel direktere Demokratie hat, auch schon klarere Abwägungen: Wie viel will ich denn besteuern, was bekomme ich dafür? Stimmt das Preis-Leistungs-Verhältnis auch für den Bürger, wie viel Steuern zahlt er und was er dafür bekommt? Oder lohnt es sich vielleicht auch, attraktive Investoren anzulocken, indem man bei den Steuern nicht so zugreift? Das ist natürlich auch ein Vorteil, aber das können wir in Deutschland nicht alles so replizieren. Also ich glaube, man kann sich einiges abgucken. Man sollte auf keinen Fall versuchen, der Schweiz zu viel aufzudrücken, was die EU macht, sondern sollte eigentlich vielleicht davon profitieren von dieser guten Entwicklung und sich mal angucken: Wo können wir denn positiv was abgucken, was dort besser funktioniert?
Carsten Roemheld: Das würde ich mir wünschen. Auch als Schlusswort, dass wir uns einiges positiv abgucken können von anderen und einige Ihrer heute genannten Initiativen vielleicht umsetzen. Denn ich hatte von Ihnen vernommen: Ist noch nicht zu spät. Wenn die Erkenntnis rechtzeitig noch kommt, haben wir noch die Zeit umzusteuern. Und da kann man nur hoffen, dass die politischen Gestalter diesen Ratschlag auch annehmen. Frau Grimm, vielen, vielen Dank für dieses sehr, sehr spannende und interessante Gespräch und danke für Ihre Zeit.
Veronika Grimm: Danke Ihnen auch.
Carsten Roemheld: Ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, herzlichen Dank für Ihr Interesse. Ich bin sicher, dass Sie heute auch wieder eine ganze Menge an interessanten Gedanken mitnehmen konnten. Und ich würde mich sehr freuen, wenn wir uns bei einer der nächsten Ausgaben dieses Podcasts oder bei einem der vielen anderen Fidelity-Formate wiedersehen. Vielen Dank! Herzliche Grüße,
Ihr Carsten Roemheld.