Der deutsche Aktienindex DAX erlebt zurzeit eine einzigartige Kursrally, während die Konjunktur hierzulande schwächelt. Da stellt sich die Frage, ob der Kapitalmarkt von der realen Wirtschaft in Deutschland entkoppelt ist.

Der DAX bricht aktuell einen Rekord nach dem anderen. Seit der deutsche Leitindex im März 2024 erstmals in seiner Geschichte die magische Marke von 18.000 Punkten übersprang, erreichte er danach sieben Mal in Folge einen neuen Höchststand. Auslöser der Rally war das Signal der Europäischen Zentralbank, die der geldpolitischen Zeitenwende klarere Konturen verliehen hat: In der Märzsitzung stellte EZB-Präsidentin Christine Lagarde die lang ersehnte Zinssenkung für Juni¹ in Aussicht.

Während die Börse jubelt, stimmt der Blick auf die harten Wirtschaftsdaten wenig optimistisch: Die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt befindet sich in einer Phase zwischen Stagnation und Abschwung. Im letzten Quartal 2023 schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt um 0,3 Prozent – und der Ausblick bleibt getrübt. Laut Prognose der Bundesregierung wird das BIP im Jahr 2024 nur um 0,2 Prozent² zulegen. Zudem ist das Rezessionsrisiko in Deutschland mit 38 Prozent³ im europäischen Vergleich mit am höchsten. Nur in der Ukraine und in Liechtenstein sind die Konjunkturaussichten noch düsterer.

Die Diskrepanz zwischen dem deutschen Börsenboom und der konjunkturellen Entwicklung erinnert an die Lage in Japan, die ich in meinem vergangenen Blogbeitrag näher beleuchtet habe. Einige Ökonominnen und Ökonomen sprechen sogar von der berühmt-berüchtigten Entkopplung⁴ des Kapitalmarkts von der Realwirtschaft. Im Hinblick auf die aktuelle DAX-Rally wäre eine solche Diagnose jedoch irreführend.

Kein Spiegelbild des BIPs

Zum einen ist der DAX ein Performance-Index und steht damit im Vergleich zu den meisten anderen Indizes automatisch immer besser da, weil die Wiederanlage von Dividenden mit hereingerechnet wird. Zum anderen bildet der DAX die Performance der 40 größten Unternehmen Deutschlands ab, die rund 80 Prozent der hiesigen Marktkapitalisierung ausmachen. Damit spiegelt das Börsenbarometer die deutsche Wirtschaft allerdings nicht in ihrer Breite wider und sollte daher auch nicht als Konjunkturbarometer missverstanden werden. Denn die DAX-Konzerne erwirtschaften das Gros ihrer Einnahmen im Ausland, während sie im heimischen Markt nur rund ein Fünftel⁵ der Umsätze generieren. Eine schwächere Binnennachfrage trifft die Global Player somit deutlich weniger hart.

Tatsächlich schützt die internationale Ausrichtung viele deutsche Großkonzerne vor maßgeblichen Faktoren, die für die Konjunkturflaute hierzulande mitverantwortlich sind. Volkswagen beispielsweise produziert einen Großteil seiner Fahrzeuge im Ausland. Hohe Energiekosten und Fachkräftemangel, die den inländischen Konjunkturmotor bremsen, stellen also keine allzu großen Belastungsfaktoren dar.

Darüber hinaus weht an deutschen Börsen oftmals der Wind der Wall Street. Das heißt, die positive Stimmung am US-Aktienmarkt schwappt nach Deutschland  über und treibt die DAX-Kurse nach oben. Hier gibt es mithin einen direkten Bezug zur Realwirtschaft: In den USA hat sich die konjunkturelle Lage zuletzt deutlich verbessert. Zudem nimmt die wirtschaftliche Bedeutung und das Potenzial von künstlicher Intelligenz etwa im Hinblick auf Kostensenkungen zu - und beflügelt viele Branchen auch jenseits des Tech-Sektors. In Deutschland ist ein ähnlicher Stimmungseffekt zu beobachten.

Fazit

Die Diskrepanz zwischen DAX-Entwicklung und deutscher Konjunktur ist nur ein scheinbarer Widerspruch. Das Börsenbarometer hat sich nicht von der Realwirtschaft gelöst, da es trotz seines hohen Anteils an der Marktkapitalisierung hiesiger Unternehmen keineswegs die deutsche Wirtschaftsleistung repräsentiert oder in ihrer Breite abbildet. Deshalb steht die heimische Schwächephase der Kursrally auch nicht im Wege. Die Performance der Global Player des DAX hängt vielmehr vom globalen Konjunkturklima ab, und das hat sich in jüngster Zeit deutlich verbessert.

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