In Deutschland steigt die Lebenserwartung, die Geburtenrate sinkt. Viele Menschen fürchten, dass auf Dauer Wohlstand und Innovationskraft schwinden. Doch der demografische Wandel bietet auch Chancen.

Ab Juli erhalten deutsche Rentner mehr Geld. Im Westen erhöht sich der Rentensatz um 4,39 Prozent, in Ostdeutschland sogar um 5,86 Prozent.¹ Für die 21 Millionen Ruheständler ist das sicherlich ein Grund zur Freude – für die Beitragszahler, die die Rentenkasse füllen müssen, indes eine Herausforderung. Auch in Frankreich macht die Rente gerade wieder Schlagzeilen. Dort kam es in den vergangenen Wochen zu teils gewalttätigen Massenprotesten, nachdem Präsident Emmanuel Macron seine Rentenreform durchgeboxt hatte – womit die Franzosen künftig länger arbeiten müssen. 

Die beiden folgenden Beispiele verdeutlichen, wie massiv das Rententhema die Industriestaaten beschäftigt und in den kommenden Jahren weiter beschäftigen wird – denn die steigende Lebenserwartung bei gleichzeitig sinkenden Geburtenraten erfordert fast überall im Westen entschiedene politische Reaktionen.

Weil sich die Babyboomer, also die geburtenstarken Jahrgänge der 1950er- und 1960er-Jahre, nach und nach in den Ruhestand verabschieden, entsteht ein akuter Arbeitskräftemangel, der anderweitig gedeckt werden muss. Zugleich steigen die Kosten, die die Erwerbstätigen in den traditionellen Umlagesystemen für die Rentner erwirtschaften müssen. In der Gesundheitsversorgung und Pflege ist die Nachfrage nach qualifiziertem Personal höher denn je. Zudem sinkt die Zahl der Rentenbeitragszahler, die um die Zukunft ihrer eigenen Altersversorgung bangen müssen.

Vor anderthalb Jahren habe ich in meinem Podcast mit dem Soziologen Norbert Schneider ausführlich über all diese Themen und Zusammenhänge gesprochen. Er war damals Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung und ist inzwischen selbst im Ruhestand. Er lieferte mir in unserem Gespräch, auf das ich hier gern noch einmal zurückkomme, eine optimistische Perspektive auf die alternde Welt. Und er räumte mit Missverständnissen auf, die den Blick auf demografische Fragen so oft prägen. Schneider war und ist überzeugt: Viele Chancen, die in der Weisheit und Erfahrung älterer Menschen liegen, werden aufgrund von Vorurteilen gegenüber dem Alter oft übersehen.

Altern neu gedacht 

Ein Beispiel für eine verbreitete Fehlannahme lautet: Alternden Gesellschaften geht die Innovationskraft aus. Dabei existieren keine empirischen Studien, die diese Behauptung belegen. Im Gegenteil: Die Innovations- und Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft hängt von ganz anderen Faktoren ab – dem Bildungsniveau, der Forschung und Entwicklung, der politischen Stabilität, dem Wettbewerb und der Dynamik des Marktes. Das Alter gehört nicht dazu.

Die sogenannte Überalterung hat sogar das Potenzial, zum Innovationsmotor zu werden. Denn mit der Alterung entstehen ganz neue Märkte. Die Bedürfnisse und Konsumgewohnheiten von Rentnern, die geistig und körperlich so fit sind wie nie, und die dementsprechend stark am gesellschaftlichen Leben teilhaben, erzeugen eine ganz neue Nachfragesituation.

Auch der Blick auf die Arbeit muss sich ändern: Für viele Menschen ist sie auch im Rentenalter noch sinnstiftend. Die Idee des abrupten Endes von der 40-Stunden-Woche sei damit obsolet, sagt Schneider. Stattdessen seien Strukturen gefragt, die ein „Herausgleiten“ ermöglichen. Berufseinsteiger könnten durch solche Übergangsphasen übrigens vom Erfahrungsschatz älterer Kollegen besonders stark profitieren.

Fazit

Die Beispiele aus dem hoch aktuellen Gespräch mit Schneider zeigen: Der demografische Wandel erfordert ein Umdenken. Wenn es uns gelingt, eine alternde Bevölkerung nicht als Schicksal zu fürchten, sondern als Strukturwandel zu begreifen, lasst sich eine ältere Republik zu unserem Vorteil gestalten.

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