Der Kulturkampf in den USA hat die Finanzbranche erreicht. Republikanische Politiker wollen Investments nach sozialen und ökologischen Kriterien verbieten. Dabei geht der ideologische Streit an der Sache vorbei.

Wokeness, zu Deutsch etwa Wachsamkeit, ist in den USA längst zu einem kontrovers diskutierten Politikum geworden. „Woke“ zu sein heißt für die einen, mit wachen Augen durchs Leben zu gehen, soziale Ungerechtigkeiten zu erkennen, für Klimaschutz und ökologische Nachhaltigkeit einzustehen. Die ultrakonservative republikanische Opposition in den USA hingegen verunglimpft den vermeintlichen Woke Capitalism als pseudomoderne und abgehobene Agenda linker Spinner, die sich immer weiter von den eigentlichen Interessen der breiten Bevölkerung entfernen. Wie tief die Bevölkerung inzwischen gespalten ist, darüber habe ich vor wenigen Monaten ausführlich mit US-Kenner Thomas Kleine-Brockhoff im Podcast1 gesprochen.

Nun hat die Spaltung und die Wokeness-Debatte auch die Finanzbranche erreicht. Den Stein des Anstoßes lieferte Larry Fink, CEO des weltgrößten Vermögensverwalters Blackrock. Fink hatte sich wiederholt dafür ausgesprochen, ökologische und soziale Nachhaltigkeit sowie verantwortungsvolle Unternehmensführung (ESG) zu Standardkriterien bei der Portfoliokonstruktion2 zu machen. Seitdem wird er von Republikanern hart angegangen. Sie werfen ihm vor, Unternehmen zu boykottieren, die fossile Rohstoffe fördern und vertreiben. Gerade in den sogenannten Red States, den konservativ (d. h. von den Republikanern) regierten Bundesstaaten, ist der Energiesektor ein Eckpfeiler der Wirtschaft.

Für viele Konservative steht darum fest: ESG ist bloß ein weiterer Auswuchs der Wokeness-Agenda, den es aufzuhalten gilt. Inzwischen formierte sich eine Gegenbewegung mit dem Ziel, ESG-orientierte Vermögensverwalter durch neue Gesetze unter Druck zu setzen. Republikaner-Hochburgen wie Kentucky kündigten bereits an3, Geschäftsbeziehungen zu Banken und Finanzdienstleistern zu beenden und Pensionsfonds auszuschließen, die eine ESG-Agenda verfolgen.

Auch wenn Verbotsvorschläge bislang scheiterten4 und demokratisch regierte Staaten mit Gegenmaßnahmen reagierten, konnten die ESG-Gegner zuletzt einen Sieg für sich verbuchen: Vanguard, zweitgrößter Vermögensverwalter der Welt, ist aus der Net-Zero-Asset-Managers-Initiative ausgestiegen4 – einem Zusammenschluss institutioneller Vermögensverwalter, der mit vereinten Kräften für eine klimaneutrale Welt eintreten will.

ESG bedeutet auch Risikomanagement

Bei aller politischen Brisanz vernachlässigt die vom bevorstehenden Präsidentschaftswahlkampf angeheizte Debatte eine zentrale Perspektive: die Interessen der Unternehmen und Investoren. Laut einer aktuellen Umfrage des Corporate-Governance-Dienstleisters Diligent5 sind inzwischen über 70 Prozent der befragten Risikoexperten in US-Unternehmen überzeugt, dass Unternehmen bald einem deutlich größeren Anlegerdruck ausgesetzt sein werden, ESG-konform zu handeln. Anders gesagt: Werteorientiertes Investieren ist längst keine Frage von Wokeness mehr. Es geht um nicht weniger als um den Erhalt von Vermögenswerten. Und darum, Risiken zu vermeiden, die aus nicht ESG-konformem Verhalten entstehen.

Spätestens mit Ausbruch des Ukraine-Kriegs dürften ESG-Bewertungen zum unverzichtbaren Instrument des aktiven Risikomanagements geworden sein. Denn der Krieg offenbart einmal mehr die fatalen wirtschaftlichen Folgen6 für Unternehmen, die geopolitische Risiken ausblenden. Zugleich treiben Politik und Wirtschaft die Energiewende noch schneller7 voran. Die Klimasünder von gestern sind damit die „gestrandeten Assets“ von morgen, also Vermögenswerte, die im Zuge der Dekarbonisierung heftige Wertverluste erleiden werden. Wachsame Investoren wissen das schon heute.

Fazit

Der Kulturkampf zwischen Konservativen und Progressiven hat in den USA nun auch die Finanzbranche erreicht. Dabei ebnet die Geldanlage nach ESG-Kriterien nicht nur den Weg in eine ökologisch und sozial nachhaltigere Zukunft. Sie dient auch der Steuerung von Risiken, die bei der Kapitalanlage in Unternehmen mit kontroversen Geschäftspraktiken und in Umweltzerstörer entstehen.

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